Lauren Groff: „Die weite Wildnis“ - Letzte der Pioniere - WELT (2024)

Literatur Starautorin Lauren Groff

Letzte der Pioniere

| Lesedauer: 4 Minuten

Von Wieland Freund

Feuilletonredakteur

Lauren Groff: „Die weite Wildnis“ - Letzte der Pioniere - WELT (2) Lauren Groff: „Die weite Wildnis“ - Letzte der Pioniere - WELT (3)

Geboren ist Lauren Groff in Cooperstown, der Siedlung, die James Fenimore Coopers Namen trägt. Jetzt erzählt die preisgekrönte Autorin vom Überlebenskampf in der Welt des letzten Mohikaners. Doch diesmal liest sich die Geschichte von Amerikas Pionieren ganz anders.

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„Ein breiter Gürtel von scheinbar undurchdringlichen Wäldern trennte die Besitzungen der feindlichen Provinzen von Frankreich und England.“ So steht es in „Der letzte Mohikaner“, dem berühmtesten Roman eines gewissen James Fenimore Cooper, Quäkersohn aus Cooperstown – einer Ansiedlung, die von seinem Vater gegründet wurde und in der knapp 200 Jahre später die Schriftstellerin Lauren Groff zur Welt gekommen ist.

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Groffs neuer Roman „Die weite Wildnis“ spielt haargenau dort: in jenen scheinbar undurchdringlichen Wäldern, die die Besitzungen von Frankreich und England trennen. Wobei „Besitzung“ Anfang des 17. Jahrhunderts bestenfalls ein Euphemismus ist: Die englischen Siedler verbergen sich hinter „hohen schwarzen Palisaden“ und in ihrer traurigen kleinen Festung wüten Hunger und Pocken. Lauren Groffs Szenerie hat wenig mit Pionierlegenden wie der von Daniel Boone gemein, Coopers Vorbild für den Lederstrumpf.

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Groffs Boone ist auch nicht umsonst ein „Mädchen“, das nicht allein vor Hunger und Krankheit, sondern auch vor den vermeintlichen Herren der Schöpfung flieht: „Selbst ein guter Mann war todbringender als der schlimmste aller Bären.“ Lauren Groff braucht vier Zeilen, dann ist das Mädchen hinaus „in die grimmige weite Wildnis“, die der Roman im Titel führt, geschlüpft. Das Mädchen will eben jene undurchdringlichen Wälder durchdringen, mit denen Coopers „Letzter Mohikaner“ beginnt. Im Norden warten die hoffentlich rettenden „Papisten“, bei denen es hoffentlich besser ist.

Robinsonade on the run

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Es ist ein riskantes Unterfangen – für das Mädchen wie das Buch. Denn eher als einen romantischen Abenteuerroman schreibt Groff eine Robinsonade on the run. An die Stelle eines Chingachgooks und eines Uncas sind ein Paar fester Stiefel und ein Zinnbecher getreten, die das Mädchen ihre Freunde nennt. Die Dialoge beschränken sich auf Geistergespräche, die Groffs Heldin nicht selten mit meist missgünstigen höheren Mächten führt.

Und selbst der Robinsonade fehlt der epochemachende Defoesche Triumph: Während sich dessen Robinson Crusoe nach und nach eine ganze Insel untertan macht, bleibt Groffs Mädchen eine Elendsgestalt, die sich nur mit Glück von Aas und Pilzen und Beeren nährt und Wetter und Weg so weitgehend schutzlos ausgeliefert ist wie Läusen, Flöhen und der eigenen Verdauung.

Wie um die Winzigkeit ihrer Heldin auszustellen, hat Groff eine eigentümliche Perspektive auf sie gewählt: Oft scheint der Roman seine Protagonistin von hoch oben zu betrachten, aus der Vogelperspektive einer geflügelten Natur oder aber – das ist nicht auszuschließen – aus dem alles aufzeichnenden Auge einer Drohne, die womöglich ja das Wappentier unseres Zeitalters ist.

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In jedem Fall bleibt für Mythenbildung bei solch schonungslos allwissender Draufsicht kein Platz. Weder sitzt Groff dem Märchen auf, die Ureinwohner hätten die weite Wildnis des Kontinents unberührt gelassen, noch lässt sie sich von ihrer eigenen Geschichte verführen.

Die eine und die andere Wildnis

In einer der denkwürdigsten Szenen des Romans treibt das Mädchen auf einem gestohlenen Boot an einigen am Flussufer spielenden Kindern vorbei und bildet sich ein, damit zur Legende geworden zu sein, „unter den Powhatan über Generationen hinweg von einem zum anderen weitergegeben“. In Wahrheit aber, so stellt die illusionslose Erzählung gut eine Seite später klar, haben die Kinder am Ufer die Fremde im Boot alsbald vergessen und werden „nie mehr in ihrem ganzen Leben an sie denken“. Im Fluss der Erzählung bleibt das Mädchen aus guten Gründen namenlos.

Tatsächlich hat sie einen Namen – Lamentatio Venal, weil sie mutmaßlich das ausgesetzte Kind einer Prostituierten ist, untergekommen in einem Haushalt, der aus Gier und nicht aus Glaubensgründen die große Überfahrt wagt. Nach und nach enthüllt Groff diese Vorgeschichte, die im spätelisabethanischen London spielt, wo der kulturelle Firnis auch nicht dicker als die Schminke der raubtierhaften Herrin des Mädchens ist. „The Vaster Wilds“, heißt Groffs Roman im Original; der im Deutschen unterschlagene Komparativ legt nahe, dass die Zivilisation nur eine andere Sorte Wildnis ist.

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Indem das Mädchen ihre Prägungen in den undurchdringlichen Wäldern loswird, stellt Groff die Defoesche Robinsonade damit geradezu auf den Kopf. Statt Urbarmachung steht hier persönliche Auswilderung auf dem Programm. Die innere Reise ihrer Heldin, die Groff die eigentlich wichtige ist, ist eine vom Jenseitsglauben ins Diesseits, das ein Diesseits lebendiger Tiere, lebendiger Bäume, lebendiger Flüsse und, ja, auch lebendiger Menschen ist. Was heute „Nature Writing“ heißt, hat hier Einzug in den historischen Roman gehalten.

Eine Erlösung im Jenseits ist von dieser natürlichen Welt nicht zu erwarten, eine Erlösung im Diesseits aber vielleicht schon. Nicht zufällig ist es ein Fisch, der den entscheidenden Treffer ins Herz des ausgewilderten Mädchens landet. Aus dem klaren Wasser des Flusses schaut er zu ihr empor und lässt sie „laut Ja sagen“.

Lauren Groff: „Die weite Wildnis.“ Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Claassen, 276 Seiten, 25 Euro.

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Author: Sen. Ignacio Ratke

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